Wie alles begann – persönliche Erfahrungen von Harald

Es begann im Herbst 2003. Zähneputzen ist langweilig, also wird reflexartig beim Betreten des Badezimmers das Radio eingeschaltet. An jenem Abend verschluckte ich mich beinahe am Zahnpasta-Schaum, denn was da aus dem Lautsprecher drang, hatte ich noch nie gehört. “Bitte, bitte, sagt mir, was das ist!” Er tat es, der altmodische Deutschlandfunk. Es war “16 Horsepower”.

Ausspucken, Amazon, bestellen. Nach kurzer Zeit hatte ich alle CDs.

16 Horsepower verwandelten sich in Woven Hand. Im Herbst 2007 tauchten sie bei Radio Jerusalem auf. Die Sendung begann mit einem Lied, das ich (kommt uns das bekannt vor?) noch nie gehört hatte, “Consecration”. Es war auf keiner CD zu finden… und eigentlich hätte ich Trantüte damals schon schalten sollen.

Aber es sollte weitere drei Jahre dauern, bis März 2010, bis ich “Consecration” endlich in Youtube steckte. Rechts, am Rand, ein Thumbnail. “‘Awake, My Soul: The Story of the Sacred Harp’ Movie Trailer”.

Sacred Harp? Was soll das sein? Keine Ahnung. Aber mit Ausnahme von Heroin und Artverwandtem probiere ich alles aus:

Klick.

“A lot of people say ‘this is primitive stuff’. But how many people know the primitive stuff about music?”

Im Hintergrund Chorgesang, seltsam, schräg. Darüber Stimmen von amerikanischen Südstaatlern, mit dem charakteristischen “Drawl”.

“It was just like a wall of sound.”
“At one point he said ‘Do you want to sound like a bunch of untutored southerners?’ And everybody said ‚Yes!‘”


Und dann passierte es. Minute 1:15 im Video, es lässt sich auf die Sekunde festlegen. “Stratfield”. Noch nie gehört (jaja), die Dritte. Mein Mund blieb offen stehen. Was für ein Sound! Und die singen nur füreinander, ohne Publikum?

Nie im Leben habe ich gesungen, konnte keine Noten lesen, habe Musik nur gehört und nie selbst gemacht. Aber ab diesem Augenblick war die Welt nicht mehr dieselbe.

Das MUSS ich machen!

Wie immer, wenn einen etwas anfixt – was folgt, ist Arbeit, durchsetzt mit einem gehörigen Quantum Frustration. Google, Google, Google. Was ist Sacred Harp? Wer singt das? Wo? Allmählich schärfte sich das Bild. Jeden, der mir “vor die Flinte” kam, zerrte ich vor Youtube, spielte ihm Beispiele vor. Neun von zehn zuckten mit den Schultern, konnten damit nichts anfangen. Aber der… nein, die ein- oder andere blieb hängen. (Alles Frauen. Zunächst. Männer und Singen, ein Thema für sich.)

Am 20. November 2010 war es endlich so weit. Vier Mädels und ich trafen sich in meinem Wohnzimmer und versuchten sich an “Fairfield”. Erstmal einstimmig, Tenor. Ich brummelte ihn mit, mühsam auswendig gelernt, eine Oktave zu tief, und hatte die Hosen voll bis zum Stehkragen. Singen? Andere die eigene Stimme hören lassen? Aber naja, es ging, und die Welt ging nicht unter. Klang wahrscheinlich schauerlich, machte aber Spaß.

Elke und Ulrike, zwei Chor- und Musikerfahrene, stach der Hafer. “Kriegst du den Sopran hin? Ich sing den Alt.” Keine Ahnung, was die vorhaben, aber ok, singen wir es nochmal.

Und wieder passierte es. Diesmal live. “… come with your guilt AND FEAR OPPRESSED…” Auf einmal standen diese Harmonien im Raum. Schräg, cool, Gänsehaut-erzeugend. Wir probierten das Lied nochmal, im Flur, in der Werkstatt, testeten die Akustik. Und vereinbarten, uns wieder zu treffen.

So fing es an, alle drei, vier Wochen, bei irgendwem zu Hause. Jeweils ein neues Lied, das war alles, was wir schafften. In dieser Zeit hielten wir uns noch für einen Chor.

Ein Vierteljahr später trafen wir uns regelmäßig, nunmehr in abends verwaisten Büroräumen. Erst alle zwei Wochen, bald jede Woche. Und wir begannen, sehr zaghaft, mit dem Singen der “Shapes”. Merkwürdig fühlte es sich an; anstrengend. Der Sinn erschloss sich zunächst nicht. Es dauerte ein weiteres Vierteljahr, bis sich das änderte und das Singen der Noten zu einer echten Hilfe wurde.

Leider nicht für alle, denn nun begann auch unsere Gruppe, sich zu verändern. Langsam entstand ein “harter Kern” von Enthusiasten. Anderen fiel es schwer, die Konzepte “Chor”, “Repertoire”, “Einstudieren” und “Probe” aufzugeben; nach und nach verloren wir sie. Dafür tauchten neue Sänger (und noch-nicht-Sänger) bei uns auf, denen unsere “geordnete Anarchie” zu behagen schien.

Aus den Büroräumen wurden wir im Sommer 2011 hinausgeworfen. “Zu laut!” Zugegeben, das stimmte; Sacred Harp ist nichts für ein urbanes Wohngebiet. Wir zogen in einen Bunker um, mit einmeterzehn dicken Wänden. Das sollte wohl reichen, um niemanden zu belästigen.

Im Herbst stieß für drei Monate Fynn zu uns, ein Engländer, der seit fünf Jahren Sacred Harp sang.

(Kurzer Exkurs. Eine in den Siebzigern im Nordwesten der USA gegründete Gruppe (die “Sacred Cow Harmogenizers”) sang Sacred Harp für 15 Jahre, ohne mit der Tradition in Berührung gekommen zu sein. Dann erschien Karen Willard bei ihnen und “brachte sie auf Spur”. Sie wurden “willardized“.)

Nun, wir wurden fynnisiert. Dieser junge Mann brachte uns in wenigen Wochen mehr bei, als wir in allen Monaten zuvor gelernt hatten. Und erstmals nahmen wir unser Gebrüll auf, stellten es auf diese Website.

Über diese Aufnahmen stolperte Mike Morrisroe aus Irland und fragte, ob er uns besuchen könne, um mit uns zu singen. Eventuell mit noch ein paar anderen Leuten. Nun ja, warum nicht…

Davon bekamen polnische Sänger “Wind” und schlugen vor, ein All-Day-Singing in Bremen zu veranstalten. Was? WAS sollen wir? Aber wir sind doch noch so klein!

Alle Einwände nützten nichts. Es wurde Januar und die Sänger kamen, aus Irland, England, Schottland, Polen, Deutschland. Der Bunker wurde zwei Tage lang vorgeheizt und am 21. Januar war es soweit, wir sangen über hundert Lieder. Ein paar davon konnte ich sogar schon flüssig mitsingen.

Zum ersten Mal erlebten wir, wie es klingen kann.

Was war seitdem? Wir sind zwei weitere Male umgezogen, singen jetzt in der „Cappella della Musica“. Die Gruppe wächst langsam, die Überzeugungstäter mehren sich, einige Germany-Conventions liegen hinter uns, wir freuen uns auf die nächste.

Und wir suchen Mitsänger. Schalten Anzeigen, verteilen Flyer und bequatschen jeden, der nicht rechtzeitig flüchten kann. Immer wieder melden sich interessierte Leute. Dabei tritt ein Phänomen auf, das ich gern verstehen würde, das der “Phantome” nämlich. So nennen wir diejenigen, die sich übers Internet bei uns melden, meist voller Begeisterung… und die dann niemals erscheinen. Es sind inzwischen, ich habe sie gezählt, über hundert. Stellt euch vor, welchen Sound wir hätten, wenn sie alle kämen…