Warum ich Sacred Harp singen uss – persönliche Erfahrungen von Ulrike

Ich bin unter eine Horde von Verrückten geraten. Sitzen da im Keller einer Kirchengemeinde um ein leeres Quadrat herum, wedeln mit den Armen und singen christliche Lieder mit Texten, die im wesentlichen den Tod und das erhoffte Leben danach verherrlichen. Dabei sind die meisten hier wenigstens Agnostiker, wenn nicht gar entschiedene Atheisten wie ich.

Ich bin seit ungefähr zwei Jahren Teil einer internationalen musikalischen Gemeinschaft, deren europäische Mitglieder sich oft scherzhaft als “Sekte” bezeichnen. Und manchmal den leisen Verdacht haben, wirklich eine zu sein. (Aber keine Angst, wir wollen nicht euer Geld, und ihr dürft gerne alles glauben, was ihr wollt, geht uns nichts an!).

Für mich hat das alles vor etwa zwei Jahren angefangen mit einem Blick in Youtube (gelobt sei das World Wide Web!), genauer in den Trailer eines Dokumentarfilms mit dem Titel “Awake, My Soul”.

Da hört man vierstimmigen Gesang; später lerne ich, dass das Lied ganz am Anfang Idumea heißt und für den Alt (jedenfalls für mich) anstrengend hoch ist. Diese Musik schockt mich sofort, packt mich sozusagen im Innersten. And Am I born to die, to lay this body down, and must my trembling spirit fly into a world unknown…! Dieses Lied hat mein Leben verändert. Ich neige nicht zu Pathos. Ich bin ein eher unemotionaler Mensch, von einer großen Begeisterungsfähigkeit und einer Neigung zu plötzlichen heftigen Stressreaktionen abgesehen. Ich habe eine entschieden schizoide Persönlichkeitsstruktur. Aber bei Sacred Harp mache ich eine Ausnahme!

Inzwischen singe ich jeden Donnerstag mit einer langsam aber stetig wachsenden Gruppe in Bremen diese wunderbare Musik; wann immer möglich (viel zu selten!) fahre ich zu Singings, bei denen sich Sänger aus England, Irland, Schottland, Polen, USA, Frankreich und Deutschland treffen und zusammen einen Sound erzeugen, der uns alle zusammen wegreißt wie ein Tsunami mit freundlichen Absichten. Zurück in Bremen bei meiner kleinen Gruppe muss ich mich wieder mühsam an den dünneren Klang gewöhnen, aber immer wieder bin ich dann doch begeistert von dieser kleinen Gruppe von Menschen mit den unterschiedlichsten musikalischen Hintergründen, vom Berufsgeiger bis zu den “ich kann nicht singen, aber ich wollte schon immer in einen Chor!”- Sängern.

Musiker und musikalische Laien, vielleicht sogar wirklich unmusikalische Sänger in einem Chor, geht das?

Wahrscheinlich nicht. Aber wir sind kein Chor.

SACRED HARP WIRD NICHT IM CHOR GESUNGEN!!!

‘tschuldigung, ahem. Wir treffen uns zu Singings. Oder Singing Schools.

Jetzt wäre der Moment, in dem ich erkläre, was mich an dieser Musik so fesselt, aber ich kann mir das selbst nicht erklären. Ich habe viele Jahre in einem “normalen” Chor gesungen; auch das war sehr schön und hat mein Leben ungemein bereichert, aber Sacred Harp scheint eine andere Dimension des Musikerlebens zu sein. Das zeigt sich übrigens auch in dem Phänomen, dass es in Bremen kaum Leute zu geben scheint, die Sacred Harp “ganz schön” finden. Es gibt die vollständig Begeisterten und diejenigen, die sehr schnell die Flucht ergreifen.

Die Musik ist teilweise pentatonisch, was offenbar in jeder Kultur weltweit verstanden wird. Vielleicht ist das was archaisches, das an den richtigen Stellen im Hirn andockt?

Wir singen laut, “on top of our voices” (das führt zu einer Ausschüttung von Endorphin und Oxytocin, behaupten Neurowissenschaftler), und ohne lange an der Gestaltung zu feilen. Das heißt nicht, dass uns die Schönheit der Lieder unwichtig wäre, aber Sacred Harp wird nicht geübt. Sacred Harp wird gesungen. Und ich hoffe sehr, dass ich diese wunderbare Musik noch lange singen kann.